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Woche 2 der Viennale 2009

kv_v09_1022_750 (c) Klaus Vyhnalek
Österreichs größtes internationales Filmfestival startet mit einigen sehenswerten Titeln in die zweite Woche.
kv_v09_1022_750 (c) Klaus Vyhnalek / Zum Vergrößern auf das Bild klicken
Das Schöne an einem Filmfestival ist, dass man die Werke alter Hasen und aufstrebender Talente gleichberechtigt nebeneinander, also chronologisch natürlich nacheinander, sehen kann. Obwohl Filme der Cohen Brüder, eines Woody Allen und eines Lars von Trier jede Berechtigung haben auf einem Festival wie der Viennale zu laufen, kann man bei den meisten dieser Produktionen davon ausgehen, dass sie einen Verleih haben und im regulären Kinobetrieb zu sehen sein werden. Es lohnt sich also die meiste Zeit auf einem Festival mit Filmen zu verbringen, die vielleicht nicht mehr auf einer großen Leinwand zu sehen sein werden. Auf Dokumentarfilme trifft das im Besonderen zu, aber auch bei manch einer Spielfilmproduktion kann man nicht wissen, ob sie außerhalb des Festivalprogramms irgendwo gespielt wird.


v09girlfriend002 (c) Viennale / Zum Vergrößern auf das Bild klickenBei all den kleinen Produktionen ist es aber auch schön, sich ab und zu in einen Film zu setzen, bei dem man weiß was einen erwartet. Entweder weil er von einem eben jener alten Hasen gemacht wurde, deren Arbeiten man im Mainstreamkino sehen kann, oder weil der Film schon auf einigen anderen Festivals gelaufen ist und dort für positive Kritiken gesorgt hat und vielleicht sogar die eine oder andere Auszeichnung erringen konnte. Zu ersterer Kategorie gehört Steven Soderberghs neuste Produktion "The Girlfriend Experience". Das Material für die, gerade mal 77 Minuten lange, nicht lineare Erzählung, wurde in nur sechzehn Tagen im Oktober 2008 abgedreht. Es ist die Geschichte des Scheiterns der Beziehung zwischen Chelsea (Sasha Grey), einem Ein-Frau-Unternehmen im Escort-Business und Chris (Chris Santos), einem Ein-Mann-Unternehmen in der Fitness-Branche. Beide haben sich damit arrangiert, dass Chelsea ihren Körper für Geld verkauft und ihren Kunden gleichzeitig eine Erfahrung liefert, die ein einfaches Call-Girl nicht bieten kann: Eine "Girlfriend Experience". Das Gefühl der Kunden, tatsächlich eine Beziehung zu der hübschen Frau zu haben, mit ihr eine Konversation führen zu können und letztendlich auch von ihr verstanden zu werden.


v09girlfriend004_(c)_viennale / Zum Vergrößern auf das Bild klickenWährend beide unter der, alle Gespräche dominierenden, Finanzkrise leiden und neue Geschäftsfelder und Wege der Vermarktung suchen, vertraut Chelsea in der Wahl ihrer Kunden, aber auch in privaten Angelegenheiten, auf esoterischen Hokuspokus, der ihr verrät welche Männer zu ihr passen. Als ein neuer Kunde, Marke verheirateter Familienvater, ihre hohen Ansprüche erfüllt und sich auch noch als guter Zuhörer und spendabler Kavalier entpuppt, ist es um Chelsea geschehen. Sie gibt ihre Beziehung mit Chris auf und stürzt sich in ein vermeintlich romantisches Wochenendvergnügen mit ihrem neuesten Verehrer. Als dieser nicht bei ihr aufkreuzt sondern reumütig zu seiner Familie zurückkehrt steht Chelsea vor einem Scherbenhaufen. Getragen wird die gesamte Geschichte von Pornostar Sasha Grey, die ihre erste große Rolle abseits des Adult-Business spielen darf. Wahrscheinlich gehört die Kälte und Emotionslosigkeit die sie oftmals ausstrahlt nur zur Figur der Chelsea, möglicherweise mangelt es Grey aber auch ein wenig an schauspielerischem Talent um dem Charakter mehr Tiefe zu geben. Das lässt sich nicht zweifelsfrei feststellen. Wahrscheinlich ist es eine Spur von beidem, gewürzt mit etwas Krisenstimmung. Vielleicht ist Chelsea aber auch einfach ein eiskaltes, berechnendes Luxusgirl, das sie bei ihren wohlhabenden Kunden dar keine Emotionen erlauben darf. Insofern war der ambitionierte Godard-Fan Grey wohl nicht die schlechteste Wahl für die explizite Rolle. Pornostar hin, Pornostar her, was Soderberghs Film wirklich kurzweilig macht, ist der gelungene Score, der dem dahinplätschernden Film etwas Drive gibt.


v09messenger002 (c) Viennale / Zum Vergrößern auf das Bild klickenEbenfalls US-amerikanisch und ebenfalls eine low-budget Produktion ist Oren Movermans Regiedebüt "The Messenger". Auch dieser Film lebt von der Musik, die Hauptfigur Will Montgomery (Ben Foster) durch den Tag begleitet. Anders als bei Soderbergh bekommt man in "The Messenger" aber eine leicht zu folgende lineare Erzählweise geliefert und es werden tatsächlich schauspielerische Höchstleistungen geboten. Neben Ben Foster zeichnet sich dafür vor allem Woody Harrelson als Captain Tony Stone verantwortlich. Das wirklich Bemerkenswerte an diesem Film ist die allgegenwärtige Tragik, die Moverman gekonnt in Szene zu setzen weiß. Sergeant Will Montgomery wird nämlich, nach seiner Rückkehr als verletzter Kriegsheld aus dem Irak, für die letzten drei Monate seiner Dienstzeit in der US-Army mit einer neuen, delikaten Aufgabe betraut. Er soll, gemeinsam mit dem darin erfahrenen Captain Stone, den Angehörigen von Gefallenen die Todesnachricht überbringen. Die psychische Belastung die diese Arbeit mit sich bringt ist nur einer der Konflikte mit denen sich die beiden starken Charaktere auseinander setzen müssen. Das Ende von Beziehungen auf Grund der langen Abwesenheit im Kriegseinsatz, der Beginn möglicher neuer Beziehungen durch den Kontakt zu trauernden Hinterbliebenen, der Umgang eben jener mit dem Schmerz und der Trauer, die der Verlust eines geliebten Menschen erzeugt – obwohl der Tod zum Berufsrisiko eines Soldaten gehört und alle Beteiligten über die Gefahren Bescheid wissen. All das thematisiert der Film.


v09messenger003 (c) Viennale / Zum Vergrößern auf das Bild klickenSeine stärksten Momente hat er aber in der kurzen Arbeitszeit der beiden Todesboten. Die mentale Vorbereitung auf das Überbringen der traurigen Nachricht, das Klopfen an die Tür, das angespannte Warten auf das Öffnen, der Kontakt, die Benachrichtigung und die unmittelbare Reaktion darauf: Zusammenbrechen, Weinkrämpfe, Entsetzen einerseits, Wutausbrüche, Schläge und ins Gesicht spucken andererseits. Das ist ganz großes Gefühlskino, das natürlich dramatisiert, aber nie übertrieben wirkt, sondern immer versucht authentisch zu bleiben. Montgomery und Stone lernen sich im Lauf ihrer gemeinsamen Tätigkeit kenn und blicken hinter ihre selbstkonstruierten Fassaden als moderne Kampfmaschinen, die sie nach außen hin aufrecht erhalten müssen. Sie erzählen sich ihre Geschichten und arbeiten gemeinsam ihre eigenen Verluste auf. Beide sind mit ihren Problemen immer noch auf Kriegsschauplätzen fern ab der Heimat. Eine Heimat in die sie zurückgekehrt sind, in der sie aber nie so richtig angekommen sind – und wohl auch nicht mehr ankommen werden. Auf der Berlinale hat "The Messenger" dafür den Peace Film Award und den Silbernen Bären für das beste Screenplay gewonnen.


v09gigante003 (c) Viennale / Zum Vergrößern auf das Bild klickenEinen Silbernen Bären erhielt dieses Jahr auch das Spielfilmdebüt von Adrian Biniez, dem Sänger einer Independent-Band aus Uruguay. Außerdem gab es für "Gigante" in Berlin den Preis für den Besten Erstlingsfilm und den Alfred-Bauer-Preis. Diese stille Produktion aus Uruguay und Argentinien erzählt die bizarre aber durchaus romantische Lovestory des schwergewichtigen Supermarkt Nachtwächter Jara (Horacio Camandule) und seiner angebeteten Julia (Leonor Svarcas), die im selben Supermarkt als Reinigungskraft beschäftigt ist. Aus der sicheren Deckung seines Kontrollraums beobachtet der Gigante das Geschehen im Markt über seinen Monitor, löst Kreuzworträtsel, isst Kuchen und lässt schon mal einem Mitglied der nächtlichen Putztruppe einen kleinen Diebstahl durchgehen. Julia bemerkt er, als dieser ein Missgeschick unterläuft und sie beim Putzen eine Pyramide aus Küchenpapier umstößt. Amüsiert sich Jara zunächst über den Unfall, beginnt er in das Geschehen einzugreifen, als er den Manager des Marktes beobachtet, der Julia für ihren Fehler zur Rechenschaft zieht. Er lässt seinen Boss ausrufen und rettet Julia damit vor den harschen Worten des ungemütlichen Schlipsträgers.


v09gigante004 (c) Viennale / Zum Vergrößern auf das Bild klickenAb diesem Zwischenfall erwacht in Jara ein Interesse an der hübschen Putzfrau. Zunächst beobachtete er sie nur über seinen Monitor. Die Überwachungskameras liefern ihm die nötigen Bilder sein Objekt der Begierde ungestört zu betrachten. Aber die Distanz vor dem Bildschirm wird ihm auf Dauer zu langweilig. Um Julia anzusprechen ist der Metalhead Jara aber zu schüchtern. So beschränkt er sich zunächst darauf sie nach Dienstschluss zu verfolgen. Von der Bushaltestelle ins Internetcafe, vom Karatestudio ins Kino und schließlich bis zu ihrer Haustür. Er verschafft sich sogar Einblick in ihre Akte. Persönlichen Kontakt sucht er aber nicht. Ganz im Gegenteil. Wann immer er Julia begegnet wendet er sich ab oder versteckt sich. Der ganze Film lebt von der Schüchternheit, der Unbeholfenheit aber auch vom kindlichen Charme Jaras. Es ist ein ruhiger, melancholischer Film, der trotz seiner schweigsamen Hauptfigur nie Langeweile aufkommen lässt. Gerade wenn dem Gigante langweilig ist, hat der Film seine stärksten Momente subtiler Komik. Biniez Regiedebüt kann aber auch durchaus als Gesellschaftskritik verstanden werden. Und zwar nicht an Voyeurismus und Überwachung, Medien- und Technologiehörigkeit und Kommunikationsverlust, sondern als Kritik an der Anonymität, zum Beispiel in den Megastrukturen moderner Einzelhandelsunternehmen und an der Hire-and-Fire Logik des Marktes.


v09womencen001 (c) Viennale / Zum Vergrößern auf das Bild klickenIn eine ähnliche Kerbe schlägt die junge chinesische Filmemacherin Guo Xiaolu, der auf der diesjährigen Viennale ein eigener Schwerpunkt gewidmet ist, die aber auch mit je einer Produktion im Spielfilm- und im Dokumentarfilmprogramm vertreten ist. Beide Filme sind gleichzeitig und mit begrenzter finanzieller Ausstattung entstanden. In der 76 minütigen Dokumentation "Women cengjing de wuchanzhe", auf Englisch "Once upon a time a proletarian", die ausschließlich auf Video gedreht wurde, zeigt sie eine Bild des gegenwärtigen China, das in westlichen Dokumentationen und Reportagen in dieser Klarheit nicht zu sehen und vor allem nicht zu hören ist. Denn das Besondere an dieser Doku ist die Offenheit der Protagonisten, die mit einer Chinesin über die grundlegenden Probleme des Landes und dessen Regierung plaudern und dabei fast gänzlich auf die Kamera vergessen, die all das festhält. Neben dem trivialen Alltagsgeschehen entfalten sich zum einen Geschichten von Einsamkeit, Verlorenheit und Anonymität, zum anderen Bilder einer ungewissen Zukunft und einer alles verschlingenden Resignation und Gleichgültigkeit. Die Auswahl der Personen, ihre Hintergründe und gesellschaftlichen Positionen ist keinesfalls repräsentativ. Es sind zufällig ausgewählte Protagonisten, quasi auf der Straße aufgegabelt. Und nur die stärksten Storys haben es in den Film geschafft. Dennoch ist „Once upon a time a proletarian“ eine interessante Gesellschaftsstudie, die sich eines Landes annimmt, das in den letzten 60 Jahren mehr grundlegende Revolutionen durchgemacht hat als so manch anderes Land. Die kommunistische Revolution, die Kulturrevolution und schließlich die immer noch andauernde Wirtschaftsrevolution. Egal ob man nun von postmarxistischer Ära, Transformationsgesellschaft oder sozialer Marktwirtschaft spricht, gemeint ist dabei immer eine Gesellschaft, in der die Identitäten verloren gegangen sind und sich heute jedes Individuum seinen Platz in der Gesellschaft aufs Neue suchen muss.


v09sheachin008 (c) Viennale / Zum Vergrößern auf das Bild klickenDie selben Probleme greift Guo Xiaolu auch in ihrem Spielfilm "She, a Chinese" auf. Darin wird all die Perspektiv- und Ziellosigkeit in Li Mei (Huang Lu) verkörpert, einem einfachen Mädchen vom Land, das ihr Glück in der Stadt probiert. Natürlich ist das Leben dort um keinen Deut besser und schon gar nicht einfacher. Für die lokale Textilfabrik arbeitet sie zu unpräzise, im nächstbesten Friseursalon/Bordell kommt sie unter, findet aber auch kein Glück. Durch Zufall kommt Mei an ein kleines Vermögen, das ihr die Flucht in den Westen ermöglicht. Überstürzt heiratet sie in London den erstbesten Engländer, nur um nach einer Weile zu erkennen, dass sie mit dem alten Witwer wohl auch nicht glücklich wird. Sie bleibt eine ewige Suchende, die heimatlos durchs Leben zieht. "She, a Chinese" wurde beim Filmfestival von Locarno mit dem Goldenen Leoparden ausgezeichnet und Guo Xiaolus Dokumentation "Women cengjing de wuchanzhe" war bereits beim Filmfestival von Venedig zu sehen.


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