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Audiobook-Review: Axolotl Roadkill (Hörbuch Hamburg)

Axolotl Roadkill (c) Hörbuch Hamburg
Am Jahresbeginn ging ein erleichterter Aufschrei durch die Reihen der Literaturkritiker. Ein neuer Stern ward geboren worden am Himmel der deutschsprachigen Literatur: Helene Hegemann, gerade mal 17 Jahre jung, hat ihren knapp 200 Seiten starken Debütroman abgeliefert.

Axolotl Roadkill (c) Hörbuch Hamburg / Zum Vergrößern auf das Bild klickenDer Grundtenor der sich kritisch äußernden, weltmännischen und angesehenen Kritikerriege war unisono: "Gewaltig, brutal, gemein, pervers, radikal, klug, abgründig, sprachgewaltig und der Gesellschaft einen Spiegel vorhaltend", so wurde das Werk unter anderem bezeichnet. Was ist also dran am hoch gelobten Coming-of-Age-Roman der jungen Schriftstellerin und was hat das ganze mit einem Axolotl zu tun?


"Die Krankheit zum Tode ist Verzweiflung." (Søren Kierkegaard)


Erzählt wird in chaotischer, teilweise schwer lesbarer und episodenhafter Form die Geschichte der wohlstandsverwöhnten und vom Schicksal gebeutelten 16-jährigen Mifti. Aufgewachsen ist sie in Deutschland bei ihrer Mutter, einer schizophrenen und drogensüchtigen Frau, die ihrer Tochter sogar noch am Sterbebett hasserfüllt in die Augen blickt und keine netten Worte des Abschieds übrig hat. Mifti ist gerade mal 13 Jahre jung, ein einschneidendes Erlebnis, nicht nur für junge Menschen. Den dank der fehlenden Liebe der Mutter entstandenen Seelenschaden stuft sie als irreparabel ein.


Mifti zieht nach Berlin und lebt fortan bei den ebenfalls verwöhnten Halbgeschwistern. Mit der älteren Schwester, einer Marketingschlampe, und dem ebenfalls älteren Bruder, der irgendwelche Klamotten entwirft und lieber auf zwei losen Matrazen schläft, um jederzeit den Schlafplatz wechseln zu können, teilt sie oberflächliche Gespräche und eine Haushälterin. Mifti ist eine altkluge, sich selbst bemitleidende Göre mit wirren Träumen und einer dissoziativen Gedankenwelt. Der soziale Zwang der Konsensgesellschaft ist ihr zuwider, und die Schule lehnt sie kategorisch ab. Lieber verbringt sie ihre Zeit mit degenerierten Älteren auf Parties, gibt sich wahllos gefühlslosem Sex und Drogenexzessen mit brutalen Abstürzen und Wahnvorstellungen hin. Der in infantilen Allmachtsfantasien hängengebliebene Vater kümmert sich wenig um seine Sprößlinge und lebt lieber mit seiner jüngeren Freundin zusammen.


Im ständigen Kampf gegen Langeweile und Stumpfsinn der Welt hat Mifti in der magersüchtigen und HIV-positiven Orphelia eine faszinierende Gefährtin gefunden, die sie zu lieben scheint und mit der sie sich angeregt austauscht. Mit der 30 Jahre älteren Alice, gleichzeitig Mutterersatz und Geliebte, hat Mifti eine verhängnisvolle und gefährliche Affäre. Unsicher wankt die Jugendliche durch ihr Leben, vielleicht auf der Suche nach Antworten auf quälende Fragen. Vom Leben im Allgemeinen und von der Menschheit im Speziellen geplagt, gibt sie sich der Rebellion genußvoll und sich selbst bemitleidend hin. Spaß, Lust und Leiden liegen dabei immer dicht aneinander, ergeben einen wilden Wirbel von Gefühlen und gewähren so einen tiefen Einblick in das chaotische Seelenleben von Mifti. Und dann wäre da noch ein Axolotl, von Mifti in einer Plastiktüte herumgetragen. Der nachtaktive Lurch, der nahezu sein gesamtes Leben im Lurchstadium verbringt und die Fähigkeit besitzt sogar abgetrennte Gliedmaßen nachwachsen zu lassen, ist Miftis Maskottchen, vielleicht sogar das Maskottchen einer gesamten Generation.


Die von Helene Hegemann erzählte Geschichte ist kein typischer Mädchenroman. Geschickt wird die Zerrissenheit von heranwachsenden jungen Menschen thematisiert. Die schwierige Phase der Selbstfindung ist literarisch mit einer Fahrt in einer lauten U-Bahn gemeinsam mit einer Klasse von 16-jährigen zu vergleichen: Irgendwie schielt man neugierig auf die Jugend, bekommt vereinzelte Gesprächsfetzen der wilden und angeberischen Gespräche mit, versucht zu verstehen was die schnell zwischen einzelnen Themen, Textnachrichten und Musik aus dem Handy hin- und herwechselnden Jugendlichen beschäftigt und ist schlussendlich froh aussteigen zu können, um dieser Vorhölle des Aufmerksamdefizits zu entkommen. Als "halluzinatorische Entladung eines traumatisierten Bewusstseins, sowie die gleichzeitige Parodie davon" (Ursula März in "Die Zeit") wirft Hegemann dem Leser einen faszinierenden und gleichzeitig sperrigen, unfertig wirkenden Roman in "besserwisserischer" und wortgewaltiger Sprache vor die Füße und trifft damit das Lebensgefühl einer Generation. Quasi als Spiegel der schnelllebigen Gegenwart werden Erwachsene, Stumpfsinnigkeit, Oberflächlichkeit, Konventionen und der sonstige gute Geschmack pointiert angegriffen.


"Originalität gibt’s sowieso nicht, nur Echtheit." (Helene Hegemann)

Aktuell steht die junge Autorin im Kreuzfeuer von Plagiatsvorwürfen. So haben einzelne Textpassagen starke Ähnlichkeit mit dem 2009 veröffentlichten Buch "Strobo" des Berliner Bloggers Airen. Weiters findet sich eine Übersetzung des Liedes "Fuck You" der Band Archive in "Axolotl Roadkill" wieder. Problematisch hierbei ist die unterlassene Kennzeichnung der Passagen als Zitate und die nicht eingeholte Genehmigung der Urheber, was schließlich in der neuesten Auflage korrigiert wurde. Ob man einer jungen Frau am Anfang ihrer Schriftstellerkarriere diesen Fehler ankreiden oder dem Lektorat des Verlags Ullstein Schlampigkeit vorwerfen mag, ist einer eigenen Diskussion würdig. Es bleibt zu hoffen, dass nicht noch weitere berechtigte Vorwürfe zum Vorschein kommen. Ehre wem Ehre gebührt!


Die Hörbuchversion profitiert von der markant-rauhen Stimme von Birgit Minichmayr, dem Star der deutschen Theaterszene, die der Figur Mifti eine weitere rebellische Facette hinzufügt. Der schnelle Lesestil erschwert es aber manchmal den komplexen Dialogen zwischen wechselnden Charakteren zu folgen, gefällt aber im Großen und Ganzen und war eine gute Wahl.


Abschließend bleibt zu sagen, dass "Axolotl Roadkill" sicher eine außergewöhnliche Erfahrung bleibt und die Leserschaft polarisieren wird. Für mich steht außer Frage, dass Fräulein Hegemann Talent besitzt und einen sprachgewaltigen Roman geschrieben hat, kopierte Stellen hin oder her. Ihr Stil hebt sich definitiv vom literarischen Einheitsbrei ab und schon allein wegen dem Kraftakt eine Buchveröffentlichung durchzustehen, zolle ich ihr Respekt. Ihr vermutliches Ziel zu provozieren hat sie somit für mich erreicht. Ob man sich mit dem Inhalt anfreunden kann, muss jeder für sich selbst entscheiden.


# # # Andreas Himmetzberger # # #



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